„‚Zwischen Leben und Tod liegt eine Bibliothek‘, sagte sie. ‚Und diese Bibliothek besteht aus endlosen Regalen. Jedes Buch bietet dir die Chance, ein anderes Leben auszuprobieren, das dir offen gestanden hätte. Jedes Buch bietet dir die Chance, zu sehen, wie alles gekommen wäre, wenn du andere Entscheidungen getroffen hättest… Hättest du irgendetwas anders gemacht, wenn sich ungeschehen machen ließe, was du heute bereust?‘“
So lautet das Epigraph in Matt Haigs Roman ‚Die Mitternachtsbibliothek‘, mit dem wir uns in der letzten Literaturrunde beschäftigt haben. Die Frage „Was wäre, wenn…?“ hat sich bestimmt jeder schon einmal gestellt. Und mit genau dieser Frage wird auch die Protagonistin des Buchs konfrontiert. Was wäre, wenn sie vermeintliche Fehlentscheidungen rückgängig machen könnte? Wie würde ihr Leben dann aussehen?
Über den Autor
Matt Haig, geboren 1975, ist ein britischer Bestsellerautor, der selbst sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hatte. Seine Erfahrungen mit der Krankheit haben ihn oft beim Schreiben beeinflusst und daher behandeln auch viele seiner Bücher dieses Thema, wie zum Beispiel das Sachbuch ‚Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben‘ oder auch sein neuester Roman ‚Die Mitternachtsbibliothek‘. Haigs Bücher inspirieren seine Leser und geben denen Hoffnung, die in einer ähnlichen Lage stecken.
Um was geht’s?
Die 35-jährige Nora Seed leidet schon lange an Depressionen und ist sehr unzufrieden mit ihrem Leben. Nachdem sie bei ihrem Job gekündigt wurde, ihr Klavierschüler nicht mehr zum Unterricht kommen will und dann auch noch ihre Katze überfahren wird, beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Nora schreibt einen Abschiedsbrief und nimmt anschließend mehrere Tabletten ihres Antidepressivums. Doch anstatt zu sterben, erwacht sie in der Mitternachtsbibliothek. Eine Bibliothek zwischen Leben und Tod, die gefüllt ist mit unzähligen Reihen an Büchern, die die verschiedensten Versionen von Noras Leben enthalten. Sobald Nora ein Buch auswählt und beginnt, darin zu lesen, wird sie in das entsprechende Leben transportiert und hat die Möglichkeit, eine andere Version ihrer selbst zu sein. Sie kann die Entscheidungen rückgängig machen, die sie bereut und erfährt, was sich dadurch alles verändert. Wie wäre ihr Leben, wenn sie doch Gletscherforscherin geworden wäre, ihren Ex geheiratet hätte oder mit ihrer besten Freundin nach Australien ausgewandert wäre? Nora kann die unterschiedlichsten Varianten in der Mitternachtsbibliothek ausprobieren. Aber wird sie eine Version ihres Lebens finden, in der sie nichts bereut oder ist Nora einfach nicht für ein glückliches Leben bestimmt?
Unser Eindruck
Bei unserem Treffen zur Besprechung des Romans waren die Rückmeldungen überwiegend positiv. Fragen wie „Braucht es mehrere Leben, um den Wert des eigenen Lebens zu erkennen?“ luden zu einer tiefgründigen Diskussion ein, bei der jeder seine Meinung vertreten konnte. Als Kritikpunkt merkten wir allerdings an, dass der Ausgang des Romans schon früh absehbar war. Zum Teil hätten wir uns ein anderes Ende für die Protagonistin gewünscht, welches überraschender gewesen wäre und den Roman noch spannender gemacht hätte. Dennoch tat das der Geschichte im Großen und Ganzen keinen Abbruch.
Als Lektüre für die kommenden grauen Wintertage eignet sich ‚Die Mitternachtsbibliothek‘ perfekt. Wegen der interessanten Handlung und den kurzen Kapiteln lässt sich das Buch leicht und schnell lesen. Doch vor allem die Message des Buchs heitert einen in der trüben Jahreszeit auf. Denn die Geschichte regt zum Nachdenken an und man stellt sich die Frage, was man in seinem bisherigen Leben gerne anders gemacht hätte. Aber man merkt schnell, dass man nur zu der Person geworden ist, die man heute ist, wegen all der Ereignisse, die man durchlebt hat. Im Endeffekt wäre man in einem anderen Leben doch nicht man selbst, und eigentlich ist man schon genau richtig, so wie man ist.
Gutekunst
19. November 2021Sehr schöner Beitrag. Danke